Islandschaften

Unterwegs ins Denkmögliche

“Ich hatte stets so viel zu sehen, und jeder Gegenstand, wenn auch noch so klein und unbedeutend, interessierte mich so sehr, dass ich alle Mühseligkeiten vergaß. In solchen Fällen bewunderte ich oft selbst meine eisenharte Natur, die mir erlaubte, ähnliche Strapazen auszuhalten.”
(Ida Pfeiffer, 1797-1858)(1)

Imaginierte und konstruierte Landschaft
Unwirtlich und geheimnisvoll stellen wir uns Island gemein­hin vor, von Elfen und Trollen bevölkert. Eine “Insel aus Feuer und Eis”, wie sie die Reiseprospekte beschreiben: eine Wildnis, in der Wind und Wetter dem Menschen zusetzen, ihn aber zugleich spektakuläre Naturschauspiele erwarten. “Natur ist immer auch ein Museum im Kopf”,(2) schreibt Hans Ulrich Reck, und für die Landschaften Is­lands gilt dies in besonderem Maße. Wir machen uns ein Bild dieser Insel, das sich aus Reiseberichten, dem Mythos der Edda, aus Fernseh- und Werbebildern speist und auf dessen Bestätigung wir bewusst oder unbewusst warten, wenn wir dorthin reisen.(3)

Das Verhältnis zwischen Vorstellungen und Klischees, die von Island existieren, und der tatsächlichen Erfahrung vor Ort ist für Nicole Schucks Islandprojekt ein zentrales Moment. Schon bevor sie sich auf die Reise machte, hat sie sich intensiv mit diesem “Museum im Kopf” beschäftigt, das Island auch für sie darstellte. Für ihre Arbeit “Eistiere und Heizsysteme” hat sie 2005 in Berlin leben­de Isländer­innen und Isländer nach ihren Bildern von Island befragt. Deren Erzählungen bildeten – verschränkt mit Informatio­nen aus Reiseführern, Bildbänden und dem ­Inter­net, so­wie mit Schucks eigenen Vorstellungen über dieses ihr bis dahin fremde Land – den Ausgangspunkt für die Zeichnungen der Installation. Diese wurden auf MDF-Platten aufgebracht, die paraventähnlich aufgehängt waren und zwischen denen sich die Betrachter/innen wie in einer Landschaft, bzw. einer mind-map, bewegen konnten. Eine Serie von 26 kleinformatigen Blei­stiftzeichnungen auf Papier, die Landschaften, wilde Himmel und Geysire, aber auch assoziative Sequenzen wie aus Träumen zeigten, ergänzten das Ensemble, das eine multiperspektivische Psychogeographie Islands ­visualisierte.
Ihre eigene Reise auf die Insel war für die Künstlerin nicht zuletzt auch eine Expedition in ihre persön­liche Vorstellungswelt, auf der ihre künstlerische Forschung die Relationen zwischen einer Erwartungshaltung und dem vor Ort Sichtbaren und Beobachteten auslotet.

Erwanderte und erzählte Landschaft
Die selbst gewählte Einsamkeit auf ihren Wanderungen intensivierte für Nicole Schuck das Erleben der Landschaft. Aus dem Wunsch, dieser Landschaft etwas zurückgeben zu wollen, resultierten die “Storytelling-Performances”, in denen sie über erlebte und fiktive Ereignisse berichtet und sich während des Erzählens filmt. Die gesprochenen Texte changieren zwischen Tagebuchbericht, phan­tas­tischer Erzählung, Reisebeschreibung und bisweilen auch Gruselgeschichte. Die Künstlerin greift hier ein Prinzip auf, das sie bereits zuvor in Performances angewendet hat. Zum ersten Mal finden die Erzählungen nun aber ohne Publikum statt und werden gefilmt. Publikum ist ­allein die Landschaft, die zugleich als Bühne fungiert, auf der die Künstlerin als Erzählerin mal in extremer Nahsicht mal weiter entfernt zu sehen ist.

Ähnlich wie sich in Nicole Schucks Wahrnehmung Islands die Vorstellungen, die sie gewissermaßen als Reisegepäck mitgebracht hatte, mit den Erlebnissen vor Ort überla­gern, mischen sich in den Texten der Storytelling-Performances Fiktion und Realität. Nicht selten bleibt es für die Zuschauer / innen bzw. Zuhörer / innen unentscheidbar, ob es sich um Situationen und Beobachtungen handelt, die sie tatsächlich erlebt hat, oder ob diese allein ihrer Phantasie entstammen.(4)

Wie bei jeder Performance sind auch bei den Storytelling-­Performances der Aspekt des Prozessualen und das Verstreichen von Zeit von entscheidender Bedeutung. Man kann das Ganze des Textes nur erfassen, wenn man sich die Zeit nimmt, den gesamten Film anzusehen.
Ungleich länger als jeder der Filme, die Nicole Schuck in ­Island aufgenommen hat, haben ihre Wanderungen ins­ge­samt gedauert. Auch hier ist für sie die Tatsache, dass ihre Unternehmung eine gewisse Zeitspanne in An­spruch genommen hat, ein wichtiger Aspekt, der zudem Parallelen aufweist zu Praktiken der Land Art seit den sechziger Jahren. Hamish Fulton etwa oder Richard Long, für deren künstlerische Praxis das Wandern in der Landschaft zentral war, verwiesen oft bereits mit den Titeln ihrer Arbeiten auf die Bedeutung der Zeit. “Rock Fall Echo Dust (A Twelve and a Half Day Walk on Baffin Island Arctic Canada) Summer 1988” lautet etwa ein Titel einer Performance Hamish Fultons. Eine unmittelbare Begegnung mit der Natur und die Schärfung der Wahrnehmung sowohl der Umgebung als auch der eigenen Person sind entscheidende Aspekte solcherart Wanderungen. Während die meisten Arbeiten der Land Art aber einen starken dokumentarischen und deskriptiven Charakter haben und quasi-kartographische Aufzeichnungen eine wichtige Rolle spielen, verweben sich in Nicole Schucks Performances Beschreibungen der äußeren Welt und des inneren Erlebens ungleich stärker.

Gezeichnete Landschaft
In Island sind der Künstlerin, während sie unterwegs war, viele Tiere begegnet. Immer wieder waren es vor allem Vögel, die sie ein Stück begleiteten und die manchmal vor ihr her liefen, ganz so als wollten sie ihr die Landschaft aus ihrer Perspektive zeigen. Die zum Teil sehr großformatigen Zeichnungen der Serie “Pelz­länder”, zu der Schuck bereits in Island Skizzen anfertigte, die dann aber vor allem nach der Rückkehr in ihrem Berliner Atelier entstanden, können als ein Versuch verstanden werden, sich diesen Tieren auf behutsame und zugleich sehr ­intensive Weise zu nähern. In der Sorgfalt und Genauigkeit ähneln sie wissenschaftlichen Zeichnungen und lassen an die Bilder Georg Forsters oder anderer For­schungsreisender denken, die diese vor der Erfindung der Fotografie von ihren Expeditionen mitbrachten. Während diese ­wissenschaftlichen Zeichnungen vor allem dazu ­dienten, die Tier- und Pflanzenwelt bis dahin fremder ­Länder zu dokumentieren bzw. das Typische einzelner Ar­ten ­herauszuarbeiten, handelt es sich bei Nicole Schucks Zeichnungen jedoch um sehr spezifische Portraits von Tieren.

Die Körper der Tiere erscheinen nie als Ganzes auf diesen Zeichnungen, sie sind gleichsam fragmentiert, so dass zum Beispiel der Kopf einer Schnee­eule neben einem Detail ihres Gefieders auf der weißen Fläche des Papiers platziert ist. Oder der Kopf eines Fuchses scheint losge­löst von seinem Körper mit dem weichen Fell auf dem Blatt zu schweben. Die Darstellung der Gesamtmorphologie der Tiere ist zugunsten der Darstellung von Details ihres Körpers aufgegeben. Durch diese Fragmentierung entsteht eine Konzentration auf die Oberflächen der Tierkörper, auf die Muster und die haptische Beschaffenheit ihrer Felle und Gefieder. Die zum Teil kopflos gezeichneten Körper mit ihren Pelzen und Federn werden zu Landschaften, die sich weiter denken lassen in die weißen Flächen hinein, auf denen sie angeordnet sind.

Das Erleben des eigenen Körpers in der Landschaft Islands und insbesondere auch die Erfahrung, permanent dem bisweilen sehr stürmischen, kalten und regnerischen Wetter ausgesetzt zu sein, bilden den Hintergrund für Nicole Schucks zeichnerische Recherchen zur Tierwelt Islands. Welche Anpassungsstrategien an die Umwelt gibt es, und welche Eigenschaften muss ein Körper haben, um hier zu bestehen? Muss er sich unter Umständen ändern können, wenn klimatische Bedingungen sich ändern? Und was geschieht, wenn ein Mensch, dessen Körper weitaus weniger an die Umweltbedingungen angepasst ist, sich in dieser Landschaft bewegt?

Wie für die Storytelling-Performances ist auch für die Zeichnungen der “Pelzländer”-Serie der Faktor Zeit von zentraler Bedeutung. Bei der Betrachtung der Zeichnung­en lässt sich nur erahnen, wie viele Stunden die Künstlerin ­
an jedem einzelnen der großen Blättern gearbeitet haben muss, die sich in der Summe zu den “Pelzländern” formieren. Man mag an Arachne denken, die in der griechischen Mythologie vielschichtige Geschichten in ihre Stoffe ein­webt, wenn man die Geschichten hört, zu denen Nicole Schuck ihre Erlebnisse und Phantasien verwebt, und wenn man die einzelnen Bleistiftstriche verfolgt, aus denen die Ober­flä­chen der Pelze und Federn zusammengefügt sind.
“Das Wort ‘Landschaft’ ist zweifellos eine geniale Erfin­dung unserer Sprache”, schreibt Lucius Burckhardt.(5)

Christine Heidemann, 2008

 

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(1) Ida Pfeiffer, undatiertes Zitat, in: Slung, Michele: Unter Kannibalen und andere ­Reiseberichte von Frauen, Hamburg: National Geographic 2001, S. 88.
(2) Reck, Hans Ulrich: Neue Natürlichkeit? Alte Vorstellungen, skeptische Betrachtungen, in: Olaf Breidbach / Werner Lippert (Hrsg.): Die Natur der Dinge – Neue Natürlichkeit?, Wien / New York 2000, S. 28–36, hier S. 29.
(3) Zum Begriff der Landschaft und ihrer Konstruiertheit vgl. z.B. Burckhardt, Lucius: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hrsg. v. Markus Ritter u. Martin Schmitz, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2006.
(4) Zum Erzählerischen in Nicole Schucks Arbeit vgl.: Loreck, Hanne: Erzählen – Eine aktuelle ästhetische Haltung, in: Nicole Schuck. Filme und Zeichnungen, hrsg. v. Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT / Birgit Effinger u. Annette Maechtel, Berlin 2003, S. 17-19.
(5) Burckhardt, Lucius: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Edited by Markus Ritterand Martin Schmitz, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2006,
pp. 67-81, here p. 69-70.