Eröffnungsrede zur Ausstellung

27. August 2009, Künstlerhaus Lauenburg

Prof. Dr. Erich Franz, Kunsthistoriker

Nicole Schuck ist eine hervorragende Zeichnerin. Das heißt nicht nur, dass sie gegenständliche Strukturen, etwa ein Tierfell oder Vogelfedern, überzeugend wiedergeben kann oder ein Pferd, eine Landschaft bei Nacht, einen Adler, mit wenigen Angaben für den Betrachter lebendig machen kann. Es heißt vor allem, dass sie über die vielfältigsten Möglichkeiten der Linienführung verfügt, vom fast absichtslos wirkenden, winkligen Verlauf über ein flüssiges Sich-Ausbreiten, ein skizzenhaftes Andeuten, aber auch sehr präzisen und sorgfältigen Schraffuren, parallelen Verläufen von Strichlagen, dynamischen Strukturierungen, Schwärmen von kurzen Strichen und Flecken bis hin zu frei über das Blatt geführten Bahnen, die expressiv und dynamisch verlaufen oder zögernd vorwärtsgehen, sich verzweigend wie Äste oder wie Straßen aus der Vogelperspektive oder auch sich anlehnend an vorhandene Formen, die sie umschließen und optisch umdeuten.

Nicole Schucks Zeichnungen führen also den Blick in permanenten Bewegungen des Sehens weiter, man spürt dabei Steigerungen und immer wieder auch ein Leiser-Werden, man spürt Verwandlungen und Umlenkungen des Blicks, etwa von einer sich ausbreitenden Wasserfarbe oder von einer schraffierten Fläche zur Andeutung eines Tieres. Selbst die neueren Zeichnungen, etwa aus der Serie „Pelzländer”, diese sehr realistischen Partien von Vogelköpfen und Vogelkörpern oder von Pelztieren, sind immer auch Bewegungen des Stiftes oder der Feder, denen man mit dem Auge folgt und bei denen man diese Bewegungen von Verdichtungen und Auflösungen optisch mit vollzieht. Immer spricht dabei das Weiß des Papiers mit, fügt sich ein in diese Bewegungen und leuchtet sozusagen von hinten durch diese Strukturen und Verlaufsflüsse hindurch.

Die Zeichnungen von Nicole Schuck sind also Erzählungen fürs Auge, nicht Abbildungen oder Illustrationen von Geschichten, sondern es sind Geschichten der Seherfahrung, der Wanderungen des Auges, und das nicht nur in dem Sinne, wie es Paul Klee verstand, nämlich als Weiterleitung des Blicks von Formelement zu Formelement (Paul Klee hat das Auge mit einem „weidenden Tier” verglichen, das im Bild seine Wege von einer visuellen Attraktion zur nächsten macht). Nicole Schucks Zeichnungen zeigen eben nicht nur Formen, Flächen, Farben, Linien, sondern sie suggerieren Erinnerungen an Landschaften, an Tiere, an Wasser, an Stimmungen, an Gebäude, Geräte, Pflanzen. Damit lassen sie den Blick auch zu Eindrücken wandern, die nicht konkret vor Augen stehen, sondern die von den gezeichneten Elementen im Bild als Vorstellungen angeregt werden.

Ich sagte anfangs, Nicole Schuck sei eine hervorragende Zeichnerin. Das ist eigentlich nicht ganz richtig. Man würde nämlich der Kunst von Nicole Schuck nicht gerecht, wenn man die Künstlerin als eine Spezialistin der Zeichnung bezeichnen würde. Das Ziel ihrer Kunst ist nicht die Zeichnung; die Zeichnung ist nur ein Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Andere Mittel sind etwa Filme, Performances oder Installationen. Ihre Ziele kann man eher mit dem Begriff des „Erzählens” andeuten, wie es Hanne Loreck in einem Katalog von 2003 dargestellt hat. Sie schreibt dort: „Zeit und Prozesse, nicht das Produkt wird relevant”. Nicole Schucks Erzählen ist, nach Hanne Loreck, eine „spezifische Arbeits- und Werkstruktur.” Nicole Schuck macht also nicht Bilder oder Zeichnungen, sondern visuelle Erzählungen. Sie zielt nicht auf eine Geschichte mit Anfang und Ende, sondern dieses künstlerische Weiterspinnen und Weiterleiten erzeugt wachsende und sich verwandelnde Vorstellungen. Die Erzählungen sind für das wandernde Auge und die wandernde Vorstellung ohne Beginn, ohne Höhepunkt und ohne Ende. Ihre Zeichnungen sind keine traditionellen Bilder, die durch ihren rechteckigen Rand abgeschlossen werden. Darin liegt ihre Modernität, in dieser offenen, unabschließbaren Ereignishaftigkeit und Prozesshaftigkeit. Das Papier ihrer Zeichnungen ist keine geschlossene Welt, sondern ein offenes Feld, über das hinweg sich die Zeichnung wie eine Wanderung ausbreitet. Die Zeichnung entspricht dieser offenen und weiterleitenden Werkauffassung viel eher als ein Gemälde, bei dem Untergrund und Malerei eine kompakte, rechteckig begrenzte Einheit bilden. Bei der Zeichnung erfährt man die Linien „auf” dem Papier, man unterscheidet ihre Verläufe gegenüber dem Bewegungsfeld des weißen Papiers. Mit dieser offenen und prozessualen Struktur sind Nicole Schucks Zeichnungen unserer Wirklichkeitserfahrung näher als abgeschlossene Geschichten und abgeschlossene Bilder. Die Realität ist für uns unüberschaubar und unabschließbar; gerade daraus entsteht oft ein Bedürfnis nach Begrenztheit und einheitlicher Ordnung, dem ein abgeschlossenes Kunstwerk entspricht. Nicole Schuck nimmt dagegen das Unabschließbare unserer Realitätserfahrung in ihre Werke auf. Sie ist eine realistische Künstlerin, die die Realität ohne eine vorgeschaltete Systematik darstellt, ohne eine aufgesetzte Brille, die nur das hindurch lässt, was ins System passt. Ihre Werke bewegen sich durch verschiedene Sichtweisen hindurch; sie nehmen den Betrachter auf eine Reise mit, die zugleich erlebnisreich und unabsehbar ist. Das gilt übrigens auch für ihre Videofilme, beispielsweise den Film „Weststadt”: Er zeigt einen Weg (eine kurze Reise) aus einem Haus in einen Wald, so wie viele Märchen beginnen, und dazu erzählt ein 11-jähriges Mädchen etwas, bei dem man nicht sicher sein kann, ob es zu den Bildern gehört oder nicht.

Ein besonders wichtiges Projekt der Künstlerin war dann auch eine Reise – ihr Island-Projekt. Ab 2003 hat sie diese Reise zunächst nur in der Vorstellung durchgeführt und entsprechende Werke über ein rein imaginäres, nur aus Berichten und Quellen erschlossenes Island geschaffen. Hier zeigt sich die Durchdringung von Realität und Fantasie, die für Nicole Schuck typisch ist. 2006-07 war sie dann wirklich dort. Die Zeichnungen, die auf Island entstanden, zeigen Pelz- und Federkleider der Tiere, die dort leben. Sie sind der Landschaft angepasst, so dass diese Zeichnungen auch indirekt Landschaften von Island darstellen. Das wird besonders durch die Isolierung einzelner Partien der Tiere deutlich.

Nicole Schuck setzt ganz unterschiedliche Zeichnungs-„Stile” ein und erreicht damit unterschiedliche Suggestionen.
Ihre zeichnerischen Mittel haben selber inhaltliche, erzählerische Qualität. Sie nehmen den Betrachter auf Wege des Sehens mit, auf denen er Erfahrungen macht, die weit über das hinausgehen, was man an Linien, was man auf einer Fläche und was man an Formen sehen kann. Ihre Zeichnungen regen die Imagination an: aus den Bildern vor Augen werden innere Bilder, die man dennoch auf den Zeichnungen sieht. Man erinnert sich, Vorstellungen werden wach, und zugleich erzeugen sie auf sehr präsente Weise neue Bilder. Das finde ich jedes Mal wieder erstaunlich, wie sehr der erste Eindruck des Realismus umschlägt und sich verwandelt in Imagination, in Erlebnisse.