10. Juli 2013, ZiF- Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld
Prof. Dr. Erich Franz, Kunsthistoriker
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gaben viele Künstler die Naturnachahmung auf und konzentrierten sich auf die Mittel der Darstellung: Linie, Farbe, Fläche, Abstände, optische Bezüge. Sie waren der Überzeugung, dass die Realität mit ihrer Unfixierbarkeit, ihrer Unbegrenztheit oder auch mit all ihren inneren (emotionalen) Vorgängen sich nicht durch Nachahmung der Gegenstände darstellen lässt. Mit bildnerischen Formen strebten die Künstler nach einer „Harmonie parallel zur Natur“. Sie schufen also eigenwertige optische Zusammenhänge im Bild, die ihrer Erfahrung der Realität und des Lebens entsprachen.
Auch die Zeichnung bildete in der Moderne eigenständigen Strukturen aus (Verläufe, Abstände, Rhythmen, Bezüge zum Weiß des Papiers), die nichts darstellen, sondern für sich stehen und eine „Parallele“ zu den Erfahrungen der Künstler herstellen. Oft bestand diese eigenständige Struktur in einem geplanten Konzept, das in der Zeichnung ausgeführt wurde.
Nicole Schuck und Beat Brogle gehen ebenfalls von dieser Eigenständigkeit der zeichnerischen Realisierung aus. Die Linien, optischen Bezüge und zeichnerischen Rhythmen stehen auch bei ihnen für sich selbst. Man gewinnt Zugang zu ihren Zeichnungen, wenn man die Linien innerlich nachvollzieht. Was aber bei beiden Künstlern neu und zeitgemäß ist, ist ein anderes Verhältnis zwischen Konzept und Ausführung. Sie legen kein System fest, keine Methode, sondern halten ihr Vorgehen möglichst offen. Bei Nicole Schuck folgen die Linien etwa den Federstrukturen eines Kranichs und den kartografischen Strukturen einer Marschlandschaft, in der Land und Meer ineinandergreifen (siehe die Zeichnung in einer Vitrine). Auch hier kommt es nicht auf die Illusion eines Gegenstandes an, sondern auf die linearen Verläufe und ihren sinnlichen Ausdruck – ihre Kraft oder Zartheit, ihre Ordnung oder Unvorhersehbarkeit. Die Linien befinden sich permanent „auf Entdeckungsreise“. Sie sind nicht durch eine Methode festgelegt, sondern ihre Verläufe bleiben offen für das Unvorhersehbare. Bei Beat Brogle ergeben die Linien (siehe die Zeichnungen auf Glas) Ansätze von Formen, Rundungen, Strukturen, Abgrenzungen, Richtungen, die niemals zu Ende geführt sind. Sie entstehen und verwandeln sich, reagieren aufeinander, heben sich gegenseitig wieder auf. Die Wahrnehmung bleibt ein Prozess.
Beide Künstler halten also ihre Methode extrem offen. Eine große Neugier wird spürbar. Diese Neugier zeigten sie auch in ihrer Zusammenarbeit mit den Fellows der Forschungsgruppe „Wettbewerb und Prioritätskontrolle in Geist und Gehirn: Neue Perspektiven aus der Forschung zu Aufmerksamkeit und Sehen“. Diese Forschungen berühren sich mit Interessen vieler Künstler. In der gesamten Moderne ging es ihnen häufig weniger um das Bild an der Wand als um das Bild, das im Kopf entsteht. Die Augenbewegungen spielen bei dieser Aktivität der Bild-Auffassung eine wichtige Rolle.
Brogle und Schuck arbeiteten am ZiF mit den modernen Methoden der Blickverlaufsmessung, dem Eye-Tracking. Sie zeichneten die Augenbewegungen auf, die entstanden, als sie sich eine visuelle Anordnung gedanklich vorstellten, etwa den Grundriss des ZiF, die Fixierung des Blicks auf einen Punkt oder das Thema „Singing in the rain“ (digitale Auf-„Zeichnungen“ in Vitrinen). Oder sie baten mehrere Fellows der Forschungsgruppe, die von ihrem eigenen Sehen erzeugten linearen Verläufe zu betrachten, wobei dann auch diese Linien ihres Betrachtens weiter aufgezeichnet wurden (Videoprojektion). Die dabei entstandenen Zeichnungen zeigen nicht nur einen Plan (die Aufgabenstellung), sondern das Unvorhersehbare und nicht Kontrollierbare der Blick-Aktivität.
Die Vorgänge des Sehens werden in gewisser Hinsicht selbst sichtbar – ihre Anstrengungen, ihre Annäherungen und Abweichungen, ihre schnellen Reaktionen. Es geht um Aufmerksamkeit, um deren partielle „Blindheit“ (für das, worauf man sich gerade nicht konzentriert) und es geht um Neugier. Diese Spannungen und Entdeckungen spielen auch bei den offen angelegten, halb geplanten und halb intuitiven Anbringungen von kleinen Blattgold-Streifen und -Zeichen im Außenbereich eine Rolle. Es ist eine Kunst, die nichts beweisen möchte, sondern sich auf das Unerwartete einlässt.