Über die Arbeiten

„Begriffe wie Reichtum, Vielfalt, Wachstum, Differenziertheit, Komplexität und Unerschöpflichkeit haben mit all dem, was Nicole Schuck zeichnet, nichts zu tun – weil es Begriffe sind, Verallgemeinerungen. Diese Zeichnungen machen das Besondere sichtbar, das Einmalige. Wissenschaft ist auf Übertragbarkeit ausgerichtet, insofern sind diese Zeichnungen nicht wissenschaftlich. Doch können sie durch die Genauigkeit und sinnliche Intensität ihrer Linienbildungen dieses eine Tier dem Bewusstsein sehr nahe bringen. Sie übersetzen etwas von dem Tier in eine Zeichnung – etwas Kostbares. Sie beweisen unübersehbar, dass es diese Unermesslichkeit gibt, dieses Erstaunliche, diese Großartigkeit, die man niemals erfinden könnte.“

(Erich Franz: Übersetzen in Zeichnung: Nicole Schucks Annäherungen an das Tier, in: „Geschätzte Tiere/Valued Animals“, S. 93.)


Künstlerisch Forschen

Nicole Schuck beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit den Themen Wildtiere, natürliche und urbane Lebensräume für Multispeziesgesellschaften, Biodiversität, Ökologie und Naturschutz. Wichtiger Bestandteil ist der interdisziplinäre Austausch und die Zusammenarbeit mit Forscher*innen und Naturinteressierten. Seit 2017 befasst sie sich speziell mit Ökosystemleistungen und weiteren Werten von Wildtieren, die nicht in diese Verwertungskategorien passen. 2020 erschien ihr Buch „Geschätzte Tiere/Valued Animals“ im Hatje Cantz Verlag, das ihre Arbeiten der vergangenen Dekade dokumentiert, begleitet von künstlerischen und wissenschaftlichen Texten folgender Autor*innen: Erich Franz, Jörg Freyhof, Bernadette Pogoda, Nicole Schuck, Georg Toepfer, Jessica Ullrich.

Die Frage, die im Zentrum ihrer Arbeiten steht, lautet: Wie können wir angesichts zunehmender klimatischer Krisen und dem rapiden Verlust von Lebensräumen unser Zusammenleben mit anderen Spezien lebenswert gestalten – jetzt und zukünftig? Weltweit sind Tierarten bedroht, auch der Mensch! In Folge zivilisatorischer Praxis schrumpfen Naturräume deutlich und damit auch die Biodiversität. Wie empfindlich das Gleichgewicht zwischen Mensch und Tier, Einzelnen und der Gemeinschaft ist, zeigte besonders die Covid-Pandemie mit Ausbruch im Jahr 2020. Dass wir andere Ansätze, Methoden und Instrumentarien im Umwelt- und Naturschutz benötigen als bisherige, ist evident geworden. Neue Sichtweisen auf Natur und Umgangsformen mit allem Natürlichen sind unabdingbar. Das Anliegen der Künstlerin ist es, poetisch, emotional und wissenschaftlich reflektierend für die gemeinsamen Lebensräume und ihre Bewohnenden zu sensibilisieren, um neue Praktiken für ein soziales artenübergreifendes Miteinander anzuregen. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, vielmehr hat er ein hohes Zerstörungspotenzial; es geht allerdings auch anders!

Zeichnung

Nicole Schuck nähert sich der Welt zeichnend. Dem eigentlichen Zeichnen geht dabei ein intensiver Forschungs- und Rechercheprozess voraus, der konstitutiver Bestandteil der Arbeit ist. So setzen sich die Schichten ihrer Zeichnungen aus dem gesammelten Material und der künstlerischen Durchdringung und Umsetzung zusammen. Wildtiere werden mit samt ihrem Lebensraum, ihren Beziehungen, Spuren und Gewohnheiten erfasst. Oft sind die Tierkörper fragmentiert und mit andersartigen Strukturen besiedelt. Fremdartige und topographische Elemente vermischen sich mit Physiognomien von Tieren, Linien wachsen aus Tierfellen und -häuten heraus und formieren sich zu neuen Organismen und Agglomerationen.

Mittels der gesamten Palette an Grauwerten der Bleistifte und hoher Detailgenauigkeit entstehen Plastizität, Tiefe und Intensität. Der langanhaltende Recherche- und Zeichenprozess oft über Wochen und Monate hinweg bilden sich als eine tiefere Verbindung der Künstlerin mit dem Tier in den Zeichnungen ab. Dabei lässt sie sich ganz auf jedes einzelne Tier ein, gewinnt Erkenntnisse und Wertschätzung über und für das Wildtier als Individuum und Subjekt im gemeinsamen Lebensraum. Das Weiß des Zeichengrundes, die unbezeichnete Fläche, ist dabei ebenso wichtiger Bestandteil der Zeichnung wie die gezeichneten Elemente selbst und öffnet den Raum für die eigene Verortung.

Erzählperformances

Mit Formen des performativen Erzählens arbeitet Nicole Schuck seit 2003. Als Intervention im öffentlichen Raum (Spaziergänge) oder als Teil einer Kartografie (Ausstellungen) ist das Erzählen eine Möglichkeit die Wahrnehmung auf Wildtiere und Menschen als Gefährten, ihr Zusammenleben in bestimmten Gebieten und Lebensräumen zu lenken und dabei zu aktivem Handeln anzuregen. Im Fokus der Performances stehen oft unscheinbare und ungeordnete, natürliche Nischen – Stadtgrün, das wenig gestalterische Zuwendung erfährt. Es sind jedoch gerade diese (Un-)Orte, die die Existenz wilder Tiere in der Stadt und damit auch die Biodiversität sichern, zudem Hitzewellen und Starkregen ausgleichen.

Zu den Erzählspaziergängen lädt Nicole Schuck neben dem Publikum meist Expert*innen ein, ihr Wissen und ihre Beobachtungen einzubringen. Dazu gehören etwa Biolog*innen, Philosoph*innen, Orientierungsläufer*innen, Jäger*innen und Naturschützer*innen u.a., mit denen in der Recherchephase bereits ein enger Austausch stattgefunden hat. Die Erzählungen und Geschichten der Anwesenden werden dabei mit Dokumentarischem und Fiktivem von der Künstlerin zu einem neuen Narrativ zusammengesetzt.

Erzählperformances ermöglichen es Nicole Schuck, Orte zu definieren, ohne den Verbrauch von Material und natürlichen Ressourcen. Sie eröffnen einen diskursiven Raum, in dem unterschiedliche mitunter auch kontroverse Positionen ins Gespräch miteinander kommen können und in dem Reales auf Imaginiertes trifft – im Zusammenspiel mit Natur und Wildtieren.