Künstlerische Forschung zu Ökosystemleistungen und anderen Werten von Europäischen Hummern und Europäischen Austern
Im Austausch mit Wissenschaftler*innen des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung sowie Einheimischen und Tourist*innen der Nordseeinsel Helgoland
Zeichnungen und Hissflaggen im öffentlichen Raum Helgolands
Im Fokus der künstlerischen Arbeit „Geschätzte Meerestiere“ steht der seltene Europäische Hummer und die Europäische Auster, die in der deutschen Nordsee als ausgestorben gilt. Beide Tierarten sind eng mit der Geschichte der Insel verwoben und wichtige Akteure in gegenwärtigen und zukünftigen Nordseeprojekten. Sie stellen für Helgoländer und Inselfans nicht nur Identifikationstiere oder Luxusnahrungsmittel dar, sondern relevante Tierarten des heimischen Ökosystems, zu dem auch der Mensch selbst gehört.
Weltweit sehen sich Wildtiere jedoch der Tendenz zur Ökonomisierung gegenüber, die das Tier verstärkt nach Wert und Nutzen für den Menschen bemisst. Der kontrovers diskutierte Begriff Ökosystemleistungen spielt dabei eine zentrale Rolle. Wird die Zukunft der Arten von ihrem Nutzen für die Menschen abhängen? Folgt unsere Wertschätzung der Tiere bald einzig festgelegten Geld- oder Nutzwerten? Könnte es sein, dass die „Wertvollen“ überleben, die im wirtschaftlichen und ökologischen Sinne „Nutzlosen“ aber aussterben? Oder kommt Umweltschutz heute nicht mehr ohne ökonomische Bewertung aus, da nur so gezielter Schutz erfolgen kann? Was bedeutet „Ökosystemleistungen“ für unseren Bezug zur Natur? Und werden andere Werte, die nicht messbar sind, wie der Eigenwert oder der ästhetische Wert, auch zukünftig vernachlässigt?
Nicole Schuck hatte 2017 die Möglichkeit, diesen Fragen während eines vierwöchigen Stipendienaufenthaltes auf Helgoland in engem Austausch mit Wissenschaftler*innen des Alfred- Wegener-Instituts (AWI) Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung nachzugehen und die Tiere im AWI-Ökolabor zu beobachten. Beide Arten wurden dort zur Wiederansiedlung und zum nachhaltigen Bestandsaufbau in der deutschen Nordsee gezüchtet, aufgezogen und ausgewildert.
Teil der künstlerischen Forschung Schucks sind neben der unmittelbaren Beobachtung des Tiers und seines Lebensraums, weiterführende Recherchen vor Ort, Überlegungen zu Ökosystemleistungen und anderen Werten der Meerestiere.
Eine einzige Europäische Auster filtriert beispielsweise täglich bis zu 240 Liter Meerwasser und ist folglich Umweltbelastungen wie toxische Algenblüten oder Klimaschwankungen ausgesetzt. Die Schalen der Austern sind dicht mit Artgenossen und zahlreichen anderen Lebewesen wie Moostierchen und Dreikantwürmern besiedelt und bilden miteinander Riffstrukturen. Auf diese Weise entstehen neue „Landschaften“ und Behausungen für diverse Organismen am Meeresboden.
Der Europäische Hummer steht als Spitzenprädator der Nichtfische ganz oben in der Nahrungskette. Er frisst alles, ob tot oder lebendig, und hält auf diese Weise in seinem Lebensraum das Ökosystem im Gleichgewicht, was wiederum die Biodiversität steigert.
Welchen Einfluss hat das Aussehen oder die kulturelle Verankerung der Tiere auf ihre Wertschätzung und Schutzmaßnahmen?
Zeichnungen unterschiedlicher Papierformate und Materialien. Seit 2017
Nicole Schuck löst das einzelne Tier aus den wirtschaftlichen Bewertungssystemen und betrachtet es als Subjekt im Zusammenspiel mit dem mit dem Menschen gemeinsam bewohnten Lebensraum. Die Zeichnungen spielen mit poetischen Aspekten der Prozesse von Ökosystemleistungen und anderen Werten dieser Tiere, die nicht in diese Kategorien passen und führen die Wahrnehmung ganz nah an diese Lebewesen heran.
Flaggen, Digitaldruck auf Polyestergewebe, 1x 400 x 200 cm, 9x 250 x 100 cm, 2018
Zehn mit fünf Zeichnungen bedruckte Hissflaggen waren für drei Monate an unterschiedlichen Orten auf Helgoland platziert. Wie ein Appell verwiesen sie darauf, dass Europäische Austern und Europäische Hummer in dieser Region beheimatet waren und es zukünftig wieder vermehrt sein sollen. Die Flaggen verliehen den Meerestieren Präsenz und verdeutlichten ihren Stellenwert als Teil des dortigen Lebens. Je nach Windstärke entfalteten sich die Motive oder verschwanden im unbewegt herabhängenden Stoff. Die Flaggen waren Tag und Nacht den klimatischen Verhältnissen ausgesetzt, die sich über die Dauer der Ausstellung in den Stoff eingeschrieben haben. Er franste aus und seine Farben veränderten sich: eine Allegorie auf das Ökosystem, das permanent positiven wie negativen Einflüssen unterliegt, die langfristig ihre Auswirkungen zeigen.
In Kooperation mit:
Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung und
Hanse-Wissenschaftskolleg
Fotos: Lutz Bertram, Carl Brunn, Nicole Schuck